Warum mein Hund und ich kein Rudel sind
Es gibt diesen beliebten Satz: „Du musst der Rudelführer sein.“ Er fällt in Hundeschulen, auf Social Media, in Gesprächen unter Hundehaltern.
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Klingt nach Naturverbundenheit, nach Wolfsromantik, nach Klarheit. Aber mein Hund und ich – wir sind kein Rudel. Und das ist gut so.
Ein Rudel ist ein biologischer Sozialverband.
Es besteht aus verwandten Tieren, meist Eltern und Nachkommen, mit klarer Hierarchie, gemeinsamer Revierverteidigung und Aufzucht des Nachwuchses.
Es ist ein System, das sich über Generationen entwickelt hat, mit fein abgestimmter Kommunikation und Rollenverteilung.
Mein Hund und ich leben nicht in einem solchen System. Wir sind keine Wölfe. Wir sind keine wildlebende Hundegruppe. Wir sind ein Mensch und ein Hund, verbunden durch Vertrauen, Alltag, Kommunikation – aber nicht durch Rudelstruktur.
Und vor allem: Unsere Verbindung ist keine freiwillige Entscheidung des Hundes.
Während sich ein Rudel in freier Wildbahn durch soziale Bindung und gemeinsame Lebensrealität formt, ist das Zusammenleben mit dem Menschen eine vom Menschen initiierte und gesteuerte (Zwangs-)Vergesellschaftung.
Der Hund wird in eine menschliche Welt hineingebracht, angepasst, erzogen, gehalten – nicht, weil er sich dafür entschieden hat, sondern weil wir es tun.
Die Vorstellung, dass der Mensch „Rudelführer“ sein müsse, stammt aus überholten Wolfsstudien der 1970er Jahre, in denen fremde Tiere in Gefangenschaft zusammengeworfen wurden.
Das Ergebnis war ein künstlich erzeugtes Dominanzverhalten, das mit natürlichen Familienverbänden wenig zu tun hatte. Moderne Verhaltensforschung hat das längst korrigiert.
Trotzdem hält sich das Bild vom dominanten Leittier, das durchsetzen muss, was es will – und der Mensch, der sich in diese Rolle zwängt.
Mein Hund braucht keinen Leithund oder Alpha. Er braucht Klarheit, Sicherheit, Verlässlichkeit. Er braucht jemanden, der Entscheidungen trifft, ohne zu drohen. Jemanden, der Grenzen setzt, ohne zu unterwerfen. Jemanden, der zuhört, beobachtet, reagiert.
Das ist keine Rudelführung. Das ist Beziehung.
Wenn ich mit meinem Hund arbeite, dann nicht, weil ich ihn „unter mir“ wissen will, sondern weil ich ihn verstehe. Ich kenne seine Bedürfnisse, seine Körpersprache, seine Eigenheiten.
Ich bin verantwortlich für sein Wohlergehen, für seine Orientierung in einer Welt, die nicht für Hunde gemacht ist.
Das ist keine Rangordnung. Das ist Fürsorge.
Natürlich gibt es Regeln. Natürlich gibt es Situationen, in denen ich entscheide. Aber nicht, weil ich ein Alpha bin, sondern weil ich derjenige bin, der den Überblick hat.
Mein Hund folgt mir nicht, weil ich ihn unter Druck setze, sondern weil ich ihm Sicherheit gebe. Das ist keine Rudelstruktur. Das ist Vertrauen.
Wer seinen Hund als Rudelmitglied sieht, verpasst die Chance, ihn als Individuum zu erkennen. Als Wesen mit eigenen Erfahrungen, mit Lernfähigkeit, mit Emotionen.
Die Beziehung zwischen Mensch und Hund ist einzigartig – nicht, weil sie einem Wolfsmodell folgt, sondern weil sie sich jenseits davon entfalten kann.
Mein Hund und ich sind ein Team. Kein Rudel. Und das macht unsere Verbindung nicht schwächer, sondern ehrlicher.
Herzlich, kritisch, hundeverliebt –
eure Petra Puderbach-Wiesmeth
Exkurs: Der Ursprung des Alpha-Irrtums
Die weitverbreitete Vorstellung, Hunde bräuchten einen dominanten „Rudelführer“, geht auf eine Fehlinterpretation zurück, die ihren Ursprung in der Wolfsforschung des 20. Jahrhunderts hat.
Maßgeblich beteiligt war der Schweizer Zoologe Rudolph Schenkel, der in den 1940er Jahren im Basler Zoo das Verhalten von Wölfen in Gefangenschaft untersuchte.
Seine Ergebnisse veröffentlichte er 1947 unter dem Titel “Expressions Studies on Wolves”. Darin beschrieb er eine starre Rangordnung innerhalb der Gruppe, angeführt von einem sogenannten „Alpha-Paar“, das sich durch Kämpfe und Unterwerfung an die Spitze gesetzt habe.
Was Schenkel jedoch beobachtete, war kein natürliches Rudel, sondern eine künstlich zusammengesetzte Gruppe nicht verwandter Tiere, die unter beengten und stressreichen Bedingungen lebte.
Die beobachteten Dominanzstrukturen waren keine stabile Sozialordnung, sondern Ausdruck von Konflikten in einer unnatürlichen Umgebung. Die daraus abgeleiteten Schlüsse wurden dennoch lange Zeit als allgemeingültig betrachtet – auch für Hunde.
Besonders einflussreich war in diesem Zusammenhang das Buch “The Wolf: Ecology and Behavior of an Endangered Species” von L. David Mech, erschienen 1970.
Mech griff Schenkels Ergebnisse auf und popularisierte das Bild des „Alpha-Wolfs“ als Leittier, das sich durchsetzt und die Gruppe kontrolliert.
Das Werk wurde zur Standardliteratur und prägte über Jahrzehnte das Verständnis von Wolfs- und Hundeverhalten – auch in der Hundeszene, wo sich daraus das Konzept des „Rudelführers Mensch“ entwickelte.
Doch Mech selbst revidierte später seine Aussagen.
Nach intensiver Feldforschung an freilebenden Wolfsrudeln erkannte er, dass diese nicht aus rangkämpfenden Einzelgängern bestehen, sondern aus Familienverbänden.
Die Führung liegt beim Elternpaar, das gemeinsam für Struktur, Nachwuchs und Stabilität sorgt. Dominanzkämpfe sind selten, Kooperation und Fürsorge prägen das Zusammenleben.
Mech distanzierte sich öffentlich von der „Alpha“-Idee und setzte sich sogar dafür ein, dass sein eigenes Buch nicht weiter verbreitet wird.
Der Mythos vom „Alpha-Wolf“ ist also ein Produkt aus Beobachtungen unter künstlichen Bedingungen, das später fälschlich auf Hunde übertragen wurde.
Die Vorstellung, der Mensch müsse sich als Rudelführer behaupten, basiert auf diesem Irrtum – und hält sich bis heute, obwohl sie wissenschaftlich längst widerlegt ist.
Wer Hunde erzieht, sollte nicht in Kategorien von Rangordnung und Unterwerfung denken, sondern in Begriffen von Beziehung, Kommunikation und Verantwortung.
Hinweis: Für eine fundierte Einschätzung des Verhaltens eines auffälligen Hundes und eine verantwortungsvolle Gestaltung seiner Erziehung ist die Begleitung durch eine kynologisch geschulte Fachkraft unerlässlich. Wer Verhalten verstehen und Erziehung wirksam gestalten will, braucht Wissen, Beobachtung und den Mut zur Differenzierung.
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Foto: Das Bild von meiner leider verstorbenen Dackelette Else ist mit Ki generiert, Petra Puderbach-Wiesmeth
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