Das Lassie-Phänomen
Wenn der Hund zum Heiligen wird und der Mensch zum Statisten
Es gibt sie, diese Geschichten, die so rührselig sind, dass man sich fragt, ob sie mit Absicht gegen die Schmerzgrenze geschrieben wurden.
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Ganz vorne mit dabei: Lassie. Die Collie-Dame, die in jeder Lebenslage weiß, was zu tun ist. Sie rettet Kinder aus Brunnen, entlarvt Bösewichte, überführt Diebe und bringt die Menschheit moralisch auf Spur. Ein pelziger Superheld mit Dauerwelle. Und das Publikum? Schluchzt, glaubt, hofft – und vergisst dabei, dass Lassie nie wirklich existiert hat.
Willkommen im Lassie-Phänomen.
Was ist das eigentlich, dieses Phänomen? Eine Mischung aus Projektion, Wunschdenken und Hollywood-Pathos. Der Hund als moralischer Kompass, als empathisches Wesen mit eingebautem GPS für menschliche Notlagen. Wer braucht schon Sozialarbeiter, wenn Lassie den Weg kennt? Die Idee, dass Hunde uns retten – emotional, physisch, seelisch – ist so tief verankert, dass man sich fast schämt, sie zu hinterfragen. Aber genau das sollten wir tun.
Denn das Lassie-Phänomen¹ ist nicht nur kitschig, es ist gefährlich.
Es verklärt den Hund zur Allzweckwaffe gegen menschliches Versagen.
Beziehung kaputt? Hol dir einen Hund.
Kind verhaltensauffällig? Lass den Hund ran.
Einsamkeit? Depression? Orientierungslosigkeit?
Lassie regelt das.
Der Hund wird zur Projektionsfläche für alles, was wir selbst nicht hinbekommen. Und wehe, er versagt. Dann war’s halt kein „richtiger“ Hund.
Dabei ist der echte Hund – also das Wesen mit Fell, Zähnen und eigenen Bedürfnissen – oft überfordert mit dieser Rolle.
Er soll therapieren, trösten, funktionieren. Am besten nonverbal, intuitiv und bitte ohne eigene Meinung. Ein emotionaler Butler mit eingebautem Schuldgefühl, wenn er nicht spurt. Das ist keine Beziehung, das ist Dressur mit Heiligenschein.
Wissenschaftlich betrachtet ist das Lassie-Phänomen ein Paradebeispiel für anthropomorphe Verzerrung. Wir schreiben dem Hund menschliche Eigenschaften zu, weil wir sie brauchen.
Nicht, weil er sie hat. Bindung, Empathie, Loyalität – alles schön und gut. Aber was, wenn der Hund einfach nur Hunger hat? Oder Stress? Oder schlicht keine Lust, den emotionalen Müll seiner Bezugsperson zu entsorgen?
Die Ironie: Je mehr wir den Hund idealisieren, desto weniger sehen wir ihn.
Wir reden von Beziehung, meinen aber Funktion. Wir loben seine Intuition, ignorieren aber seine Körpersprache. Wir feiern seine Treue, während wir ihn mit Erwartungen erdrücken. Lassie ist nicht tot – sie lebt in jedem Instagram-Post, in jeder Therapiehunde-Ausbildung, in jedem Satz, der mit „Mein Hund spürt sofort, wenn…“ beginnt.
Vielleicht wäre es an der Zeit, den Hund wieder Hund sein zu lassen. Mit Ecken, Kanten, Bedürfnissen und Grenzen. Vielleicht sollten wir aufhören, ihn als moralisches Korrektiv zu missbrauchen und stattdessen anfangen, selbst Verantwortung zu übernehmen. Denn am Ende ist nicht der Hund der Held – sondern der Mensch, der ihn sieht. Wirklich sieht. Ohne Heiligenschein, ohne Hollywood, ohne Lassie.
Und wer jetzt denkt: „Aber mein Hund ist anders“ – der hat das Phänomen gerade bestätigt.
Herzlich, kritisch, hundeverliebt –
eure Petra Puderbach-Wiesmeth 🏹🐾☕ 🖤
Fußnote:
¹ Lassie-Phänomen (nach Petra Puderbach-Wiesmeth, 2024)
Romantisch überhöhte Vorstellung vom Hund als treuem, moralischem Gefährten (anthropomorphe Verzerrung). Geprägt durch Filme und Wunschprojektionen. Verhindert oft eine realistische Einschätzung des Hundes als Tier mit eigenen Bedürfnissen und Grenzen.
Dieser Text ist bewusst satirisch und pointiert formuliert. Die Zuspitzung dient nicht der Belustigung, sondern der kritischen Reflexion eines weit verbreiteten Phänomens. Trotz ironischer Spitzen ist die Haltung ernst gemeint: Beziehung beginnt dort, wo Projektion endet.
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Foto: mit Ki generiert, Petra Puderbach-Wiesmeth
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